Im Januar 2022

Ich bin Petra, esssüchtig und OA-Neuling. Eigentlich ist das Schreiben seit vielen Jahren  meine „Notfall-Medizin“ und hat mir schon oft aus dem Gefühl der Ausweglosigkeit geholfen. Aber hier fällt es mir schwer, einen Anfang zu finden, mich für ein Thema zu entscheiden, weil alles so sehr ineinander greift, miteinander verwoben ist. Burnout, Depressionen und Esssucht begleiten mich seit einigen Jahren und sind Ausdruck selbstzerstörerischen Verhaltens. In das „erste Versprechen“(neue Freiheit und neues Glück) lege ich all meine Hoffnung. Das „zweite Versprechen“(Vergangenes weder beklagen noch verbergen oder verdrängen) hat sehr viel mit Ehrlichkeit zu tun, Ehrlichkeit mir selbst und anderen gegenüber. Dazu gehört auch, vor anderen nicht mit meinem Zustand hinter dem Berg zu halten. Aus Angst vor Unverständnis, Spott oder Mitleid versteckte sich der beschädigte Teil meiner Persönlichkeit bisher vor den anderen. Nur die Gewichtszunahme ist nicht zu übersehen. Dank OA finde ich den Mut, das Visier hochzuklappen und offen über meine drei Zustände (den körperlichen, den geistigen und den spirituellen!) zu sprechen und eröffne mir alle Möglichkeiten, Verständnis, Interesse und Hilfsangebote zu bekommen. Ich bin nicht allein. Das „dritte Versprechen“ (Gelassenheit und Frieden) lässt mich zur Ruhe kommen und Kraft schöpfen. Das Eingestehen meiner Machtlosigkeit bringt mich zu einer für mich ganz neuen Erkenntnis: Einen aussichtslosen Kampf aufzugeben bedeutet nicht Kapitulation und Niederlage, sondern: Ich lasse los und übertrage diese Aufgabe einer Macht, die diesem Kampf gewachsen sein wird. Ich muss da kein schlechtes Gewissen haben, denn diese Macht empfindet es NICHT als Zumutung, sondern wird sich gern und gut darum kümmern!

 


Im Juli 2023

Ich bin Petra (56). Etwas in mir ist ess-süchtig. Ich sehe mich wie eine Zwiebel die enthäutet wird. Schicht für Schicht wird abgetragen und je dichter man beim Schälen an den Kern kommt, umso heftiger brennen die Augen. Das Thema Ess-Sucht ploppte auf im Rahmen meiner psychotherapeutischen Behandlung. 2019 konnte ich nicht mehr arbeiten. Mein Körper streikte. Ich hatte ständig Fieber, fühlte mich wie durch den Wolf gedreht. Ich war im Ehrenamt lange und intensiv engagiert und fiel plötzlich aus, kam nicht mehr aus dem Bett. Ich schlief tagelang wie eine Tote, um beim kleinsten Anzeichen der Besserung wieder in die Vollen zu gehen. Nur die Mahlzeiten gaben, solange ich denken kann, immer den Tagesrhythmus vor, waren erzwungene Momente der Zuwendung, die ich mir zugestand. Ansonsten war es meine Passion, für andere da zu sein. Niemand zwang mich dazu, es war meine eigene Wahl. Ich war der Kummerkasten, ergriff Partei für andere, die sich selbst nicht trauten, den Mund aufzumachen, sprühte über vor Ideen und war glücklich, etwas voranbringen zu können. Mir ging es nicht bewusst darum, dafür gefeiert zu werden. Anerkennung durch Leistung. Niemand setzte mir Grenzen. Meine Eltern gaben mir Raum für freie Persönlichkeitsentfaltung. Das ist vielleicht das Einzige, was ich ihnen rückblickend vorwerfen könnte. Sie mussten  mir keine Aufgaben geben -  ich nahm sie mir. Sie hatten für mich keinen Lebensplan – ich wusste schon mit 8 Jahren, was ich werden wollte, ohne Alternative und verfolgte ihn verbissen, auch wenn mich das Studium bereits überforderte. Ich wollte in meinem Traumberuf selbständig arbeiten. Warum ich zusammenbrach war mir damals nicht klar. Mein Therapeut – ich nenne ihn „Verhaltens-Coach“ – sollte einfach nur schnell machen, dass ich wieder funktionierte. So funktionierte das natürlich nicht. Erste Zwiebelhaut: Arbeitssucht. Darunter kam eine latente mittelschwere depressive Episode zum Vorschein, von mir über Jahre weggebeamt mit Arbeit, Ehrenamt, Flucht in eine Ehe, die von vornherein keine Nestwärme und Liebe geben konnte. Ich saß immer alles aus und kämpfte verbissen um die Verwirklichung meiner Vorstellungen vom Leben. Jedes Mal bedurfte es eines starken Impulses von außen, damit ich mich im letzten Moment bewegte. Ich war blind für die Ausweglosigkeit der Situationen. Ich hatte alles ja selbst so gewollt, also musste ich mit den Konsequenzen leben. Unter der Zwiebelhaut Depression blieb etwas übrig, das ich während meines ganzen bisherigen Lebens nicht auf dem Schirm hatte: mein Umgang mit dem Essen. Im Essen fühlte ich mich wohl, ich gönnte mir was, belohnte mich (man kann sich irgendwann für alles belohnen, was man getan oder gelassen hat) und es war etwas, worüber ich Kontrolle hatte. Dachte ich. Das „Figur-Thema“ blendete ich schon vor der Pupertät aus, weil ich schon immer pummelig war. Mit Attraktivität konnte ich also nicht punkten. Ich setzte auf eine andere Art von Präsenz und erwarb mir Achtung durch Leistung, Empathie, 1A-Sozialkompetenz und übernahm Aufgaben, die kein anderer machen wollte. Echte Freundinnen konnte ich an einer Hand abzählen. Ich genügte mir irgendwie selbst. Geheiratet wurde, wer lieb war, mich gern hatte, Sicherheit bot und ein vermeintliches Nest für eine eigene kleine Familie. Um ihn musste ich mich nicht bemühen, er war froh, mich zu kriegen, konnte nicht NEIN sagen. II.Wahl trifft II.Wahl, denn erstklassig hatte ich nicht verdient. Ich denke, dass zu dieser Zeit schon die Zwiebel innen vertrocknet und hohl war, die Schalen außen gaben nur scheinbar Stabilität und Form. Während meines Lebens ging ich immer wieder durch mehrere Kleidergrößen. Zuletzt ließ ich die zu groß gewordenen Klamotten einfach im Schrank hängen weil ich wusste, dass ich sie bald wieder brauchen würde. Ich ließ sogar zu, dass mein Lebenspartner mich mästete. Er suggerierte, dass nur ER mich so liebte, wie ich war. Ich sollte unattraktiv für andere bleiben. Es war eine toxische Beziehung. Ich gab meine Hobbies auf, meine Freundschaften, meine Sozialkontakte, sogar meine Tochter verriet ich. Heute weiß ich, dass das bereits eine suchttypische Selbstisolation war, für die mein Lebenspartner keine Verantwortung trägt. Durch das 12-Schritte-Programm konnte ich für diesen Lebensabschnitt Inventur machen und Wiedergutmachung üben. Den Groll von ihm zu nehmen hat mich sehr befreit. Meine Tochter jedoch bleibt traumatisiert.

 

An der Zwiebelschicht Ess-Sucht musste dann mein Verhaltenscoach kapitulieren. Ich verstand einfach nicht, was er von mir wollte, fühlte mich angegriffen und in die Enge getrieben als er meinte: „Wenn Sie tatsächlich so viel Sport machen und so gesund essen, wie Sie behaupten – wo kommt dann das Übergewicht her???“ Er schickte mich ins Internet. Dort sollte ich nach Hilfsangeboten suchen. Ich fand da nichts, was passte. Ich fühlte mich ja nicht superfett, ich war fit, machte fast täglich Tag eine Stunde Sport (zwanghaft aus Angst, noch schneller weiter zuzunehmen), kotzte nicht, hatte weder Diabetes, Bluthochdruck oder Gelenkbeschwerden. Ich wusste Bescheid über Nahrungsmittel, kannte ihre Kalorien-Fett-Eiweiß-Zucker-Salzgehalte, mochte überhaupt kein Fastfood, Junkfood, Fertiggerichte oder Softdrinks. Und trotzdem nahm ich kontinuierlich wieder die 20 kg zu, die ich einfach so nach einer Lebenswende verloren hatte. Da stolperte ich wie durch ein Wunder über die OA-Website. Fast alle dort beschriebenen Merkmale einer Ess-Sucht trafen auf mich zu! Endlich gab es einen Namen für das ungeliebte Kind! Da ich es gewohnt bin „abzuliefern“, nahm ich gleich den 12-Schritte-Telefonworkshop mit, kaufte alle Literatur, suchte mir ein zeitlich und örtlich passendes Meeting. Läuft! Dachte ich. Ich las und aß und machte mir meine Suchtstrategien bewusst und erschrak darüber, wie sehr ich ihnen ausgeliefert bin. Neues Futter für überstanden geglaubte Depri-Attacken…Aber ich nehme das an als Aufgabe und Lebens-Übung. Es geht nicht darum, die Kontrolle über das Ess-Verhalten wieder zu gewinnen, sondern die Sucht als das zu akzeptieren, was sie ist: Eine Ersatzform der Aufmerksamkeit mir selbst gegenüber. Durch OA lerne ich, mir auf gesunde Art Aufmerksamkeit zu schenken. Ich kann mich wertschätzen dafür, mich in künftigen Situationen an „die Würde der Wahl“ zu erinnern, Alternativ-Optionen zuzulassen, innezuhalten, der Stimme im Kopf zu sagen: „Moment mal bitte…“ Nein zu sagen. Selbstfürsorge zu praktizieren. Das beginnt beim Essen und durchzieht alle Lebensbereiche: Arbeit, Hobbies, Ehrenamt, OA-Dienst, Familie, Beziehungen, Freundschaften. Ich bin nicht für die ganze Welt verantwortlich. Sie dreht sich auch ohne mich und bleibt nicht stehen, wenn ich mal innehalte. Ich übernehme jetzt Verantwortung für mich.

 

Zurück zur Zwiebel. Der hohle, vertrocknete Kern. Wer immer nur abgibt, verliert Substanz, trocknet aus. OA zeigt mir wie wichtig es ist loszulassen, zu nehmen, Hilfe anzunehmen, die Höhere Macht einfach ihren Job machen zu lassen ohne Resultate vorwegzunehmen. Es geht für mich nicht um den religiösen Glauben an einen Gott in Menschengestalt. Es geht für mich darum zu akzeptieren, dass, wenn ICH zu klein für eine Aufgabe bin, es jemand Größeren und Stärkeren gibt, der meine Akkus wieder auffüllt, ohne hinterher eine Stromrechnung zu präsentieren. Leute, das ist so ein großer Hoffungsquell! Die Höhere Macht, die Vertrauen in mich senkt verdient es, mein Vertrauen zu bekommen. In mir ist nun keine Leere mehr sondern Raum für bedingungslose Liebe. Ich muss dafür nichts abliefern sondern sie einfach nur zulassen. Das ist mein Weg zur Heilung: körperlich, geistig und spirituell. Der Zwiebelkern wird fest und stabil. Die Höhere Macht ist quasi der Gärtner mit der Gießkanne… Sicher werde ich noch die eine oder andere Schale abwerfen und die Augen tränen immer mal wieder. Aber das ist ok.

Etwas in mir ist Ess-süchtig. Dessen bin ich mir immer bewusst.Aber das bin nicht ich.

 

ICH BIN PETRA – abstinent und auf einem guten Weg.